Im usenet und in der Bloggerszene, jenem „Wurmfortsatz“ des Qualitätsjournalismus, würde der Beitrag von Vittorio Klostermann, den er heute in gedruckten der FAZ veröffentlichen durfte/sollte, mit dem hashtag #merkbefreit ausgezeichnet werden.
Das wäre jedoch nicht nur unhöflich, sondern ungewöhnlich. Denn der Verleger hat sich bislang weder durch „piratiges“ Verhalten (#cybermob) noch durch unqualifizierte Beiträge zu Open Access bemerkbar gemacht, vielmehr durch eine redlich-ergebnisoffene und realistische Position ausgezeichnet. Man muß nicht einer Meinung sein – und meiner schon gar nicht, aber man muß miteinander sprechen und nicht nur übereinander. Das inkludiert die Rezeption der verschiedenen Thesen und Sachargumente und den Willen zum intellektuellen Fortschritt.
Und genau an dieser Stelle wundere ich mich, daß Herr Klostermann die „Anliegen und Desiderate für einen Dritten Korb“ (zum Urheberrecht), welche die „Schwerpunktinitative „Digitale Information“ im Juni 2009 veröffentlichte, zum Anlaß nimmt, sich daran auf ein Neues abzuarbeiten, wie man heute so sagt.
Eigentlich dachte ich, mit der Frankfurter Tagung „Autorschaft als Werkherrschaft“ vom 15. Juli 2009 sei alles gesagt und man hätte sich wieder Wichtigerem als der gekränkten Eitelkeit eines Heidelberger Literaturwissenschaftlers zuwenden können – der Zukunft des Urheberrechts beispielsweise.
Stattdessen müssen wir erfahren, daß ein halbes Jahr und eine nicht unerfolgreiche Petition zu Open Access später wir mit denselben Strohpuppen und denselben Argumenten kofrontiert werden, wie zu Beginn der mating season 2009. Oder möchte Vittorio Klostermann an „alte Erfolge“ anknüpfen? Als wäre nichts gewesen?
Als wäre nichts gewesen, bekommen wir inhaltlich Identisches vorgesetzt, werden dieselben Strohpuppen aufgebaut und abgefackelt: Der Verleger wähnt sich, Partei zu ergreifen für die wissenschaftlichen Autoren, deren Urheberrechte er eingeschränkt sieht durch die Forderung der Allianz nach einer „allgemeinen Wissenschaftsschranke für den digitalen Zugriff auf wissenschaftliche Texte“. Soll heißen: genauso, wie wir Wissenschaftler und wie die Studenten bislang kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Texten in Bibliotheken hatten und haben, genau so sollen digitale Texte, also das Arbeitsgerät von Studenten und Wissenschaftlern in einer technisch fortgeschrittenen Welt zugänglich sein. Und das nicht nur in den physischen Bibliotheken, sondern überall, in den Arbeits-, Studier- und Lehrräumen sowie in den privaten Studierstuben, denn wissenschaftlich produktiv ist man meistens in den eigenen vier Wänden.
Diese Forderung nach einem Mitwachsen des Zugangs zu wissenschaftlichen Texten ist die logische und reale Konsequenz aus der Tatsache, daß viele Universitäten ihrem Lehrkörper und der Studentenschaft überall auf dem Campus über WLAN Zugang zum Netz bieten und rund 80% meiner Studenten einen Laptop mit ins Seminar bringen, mit dem sie parallel zur Veranstaltung recherchieren können.
Anstelle Verständnis für geänderte usancen und Mentalitäten zu signalisieren und produktive Vorschläge in die Diskussion um eine nicht erst 2009 eingesetzte Entwicklung einzubringen, wird den bildungsbürgerlichen FAZ-Lesern das alarmistische Menetekel von der „endgültigen Abschaffung des Urheberrechts“ an die Wand gemalt – eine Unterstellung, die „dreist“ zu nennen, meiner euphemistischen Grundeinstellung geschuldet ist.
Konsequent realitätsfern moniert Vittorio Klostermann den Wunsch der Allianz nach Entfristung des UrhG § 52a, also jener Erlaubnis, digitales Material zu Lehr- und Unterrichtszwecken ins universitäre Intranet zur frei Verfügung der Kursteilnehmer zu stellen. Meint er, wir könnten das Rad zurückdrehen und vom eLearning in der „cloud“, also dem gemeinsamen Zugriff auf digitale Texte von Zuhause aus uns wieder verabschieden? Richtig ist, daß die digitale Kultur dem Markt der gedruckten (Lehr-)Bücher nachhaltig wirtschaftlich Schaden zugefügt hat und weiter Schaden zufügen wird. Allerdings wird das sich auch ohne § 52a nicht ändern, denn 1) haben die Studenten durch die Studiengebühren weniger Geld für Lehrmittel zur Verfügung und 2) hat sich die Erwartungshaltung und der Zugriff auf Textmaterial bzw. Medien grundlegend geändert.
Besonders das Lehrpersonal an Universitäten muß sich mit diesen mentalen und pratikschen Veränderungen im Konsum und Umgang mit den Medien anpassen, will es die nachfolgenden Generationen nicht im Stich lassen oder bewußt unverstanden im Regen stehen lassen. Wer heute eine auch wissenschaftliche Fachinformation sucht, geht ins Netz und nicht in die Bibliothek. Und was im Netz und in der eigenen Universitätsbibliothek nicht zu finden ist, das wird nicht herangezogen, das existiert einfach nicht. Das mögen Kulturpessimisten kurzsichtig, wie sie sind, entsetzlich finden, aber das ist das Vorrecht, jeder Generation, das Kommende mit Ablehnung zu betrachten. Geändert hat das noch nie etwas.
Auch das garantierte und unabdingbare Zweitverwertungsrecht der Urheber an ihren Texten ist dem Verleger ein Dorn im Auge. Verständlich, daß er die Forderung, wissenschaftliche Texte, die von öffentlicher Hand finanziert werden, sollen der Öffentlichkeit auf kostenlos zur Verfügung gestellt werden, ablehnt. Denn das bedeutet, daß kein wissenschaftlicher Autor exklusiv und umfassend seine Nutzungsrechte an die Verlage abtreten kann – eine Vereinbarung, die regelmäßig seitens der Verlage zur Voraussetzung für die Veröffentlichung gemacht wird. Bislang bleibt dem Autor nur übrig, entweder sich dem Diktat des Verlegers zu beugen oder eben nicht (dort und dort und dort …) zu publizieren.
In einer sich ändernden Welt, in einer sich ändernden Gesellschaft soll die Politik dafür sorgen, daß für die Verleger alles so bleibt, wie es ist. Autoren sollen ihre Rechte an die Verlage im Paket abtreten, Bibliotheken sollen Zeitschriften und Bücher kaufen und Nutzer sollen sich den Lizenzbedingungen anpassen. Alle sollen sich anpassen – nur die Verleger nicht. Denn – so das Fazit des FAZ-Beitrags – wenn sich die Verlage bewegen, sie nach neuen Wegen suchen müßten, würde das deren Tod bedeuten. Denn nur die „Großen“ werden überleben, die „Kleinen“ müßten „unterschlupfen“ oder würden elendiglich eingehen.
Was aber, wenn sich die Verlage nicht zu bewegen brauchen? Weil ihnen die Politik gesetzgeberische Schützenhilfe liefert? Werden sie gemeinsam den technischen Fortschritt und die durch das Internet geprägte Gesellschaft aufhalten und zum gleichen Stillstand zwingen können?
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß viele meiner geisteswissenschaftlichen Kollegen, die gleichaltrig oder älter sind, der Open-Access-Bewegung genauso skeptisch gegenüberstehen wie Vittorio Klostermann. Auch die Punk-Szene oder die Emo-Kultur ist ja nicht jedermanns Sache. Aber was ist mit den Studenten? Aus Kindern werden Eltern und aus lesenden Studenten werden schreibende Wissenschaftler.
Wie lange werden die Verlage die Fiktion vor sich selbst aufrechterhalten können, sie würden die Interessen der Urheber und der Wissenschaften vertreten, wenn die nächste Generation „Google“ in den kommenden fünf Jahren antritt und den barrierefreien und kostenlosen Zugang zu wissenschaftlicher Fachinformation erwartet und ihn den Lesern und neuen Studenten selbstverständlich bieten will?
Vittorio Klostermann, die Verlage sollten der Allianz und den Wissenschaftsorganisationen dankbar sein. Dankbar dafür, daß sie ihnen sagen und zeigen, was sich verändern wird. Weil wir Wissenschaftler die Zukunft mit unseren Verlagen erleben und gestalten wollen – und nicht ohne sie.